Die Geschichte

zum Rezept


Das Carpaccio

Ein Bild von einem Teller -

Original-Carpaccio in Harry's Bar, Venedig


Weiß wie Schnee, rot wie Blut - dennoch war es kein Schneewittchen, von dessen Tellerchen der Legende nach hier erstmals gegessen wurde, in den 1950er Jahren, in Harry's Bar in Venedig. Aber doch eine Dame edler Abkunft. Und die Geschichte jenes Gerichts, das Arrigo Cipriani eigens für sie auf einem Teller drapierte, wie von Meisterhand gemalt, hat durchaus märchenhafte Züge.

Vittore Carpaccio (1465-1526),

Lesende Madonna, um 1505

(National Gallery, Washington D.C.)


Eine Diät war ihr verordnet worden, nur Rohes solle sie essen - diese ärztliche Verordnung für Contessa Amalia Nani Mocenigo wird bis heute als Initialzündung für die Erfindung des Carpaccio kolportiert. Die Contessa, Stammgast in Harry's Bar in der Calle Vallaresso nahe San Marco, habe nichts Gekochtes mehr essen dürfen, nicht das Hühnchensandwich, für das Harry's Bar damals bereits berühmt war, keinerlei Pasta, kein bollito misto - und so sei Arrigo Cipriani, der Gründer der legendären Jet Set-Bar am Canal Grande, eben auf die Idee verfallen, der geschätzten Contessa rohes Fleisch zu servieren.  

Damen der Venezianischen Gesellschaft,

wie Meister Carpaccio sie sah ...

Zwei Frauen auf einem Balkon, 1492 (National Gallery, Washington)


Se non è vero, è ben trovato: Ganz so dürfte es nicht gewesen sein. Eher steht zu vermuten, dass Signora Amalia unter jener Mangelerscheinung litt, die weit über die 1950er Jahre hinaus als "Blutarmut" diagnostiziert wurde, zu wenig Eisen - eine Zuschreibung, die vielen eher fragilen, mit nobler Blässe dekorierten Damen damals verpasst wurde. Auch von Kaiserin Elisabeth wird bis heute mit leichtem Schauder erzählt, sie habe auf rohes Fleisch gesetzt, als Garant für Schönheit und Gesundheit; wohl auch schreckte sie nicht davor zurück, pures Rinderblut zu trinken.

Arrigo Cipriani konnte also auf gewisse Traditionen zurückgreifen. Rohes Fleisch als Stärkung für anämische Damen, die Werke des Malers Carpaccio gleichsam vor der Haustüre, dazu sein Faible für die Kunst - er hatte ja bereits seinen Signature Cocktail Bellini nach einem Meister der Schönen Künste benannt - und so ließ sich der begnadete Gastgeber von der Malaise der Contessa beflügeln und zauberte das erste Carpaccio auf den Teller - rot wie Blut, weiß wie Schnee, mit feinem Strich dahingetupft - eine luzide Delikatesse.

Nur ein paar Schritte noch,

ein paar Brücken - schon ist man in Harry's Bar!

(Gallerie dell'Accademia, Venedig; Ausschnitt)


Märchenhaft an dieser Geschichte ist vor allem ihr Nachleben. Die Kreation schlug ein, leicht gesalzenes Contrefilet (Roastbeef) feinster Qualität, gefasst in seidige Mayonnaise, durchschimmernd und federleicht. Eine vollkommen unblutige Angelegenheit. So etwas schätzen stilbewusste Damen der feinen Gesellschaft seit eh und je. Ein solcher Eyecatcher konnte gar nicht anders, als selbst zur Legende zu werden. Das Carpaccio lebt bis heute weiter - happily ever after!

Wer wird denn gleich von meinem Tellerchen essen?

Gedeck in Harry's Bar.


Und wie das so ist mit märchenhaften Geschichten: Jeder fügt beim Erzählen etwas eigenes hinzu, lässt etwas anderes weg - Märchen sind ja wie Rezepte nicht festgeschrieben, nicht in Erz gegossen. Es wird munter interpretiert: mal mit Rucola, mal mit Parmesan, gerne mit beidem; manche hobeln Trüffeln über ihr Carpaccio, manche nehmen der Einfachheit halber Filet und legen es vorher auf Eis ...
Hat man jedoch die Möglichkeit, einmal das Original zu genießen, sollte man sich auf etwas gefasst machen: den Realitätsschock. Die Urversion - ich habe sie mir im Sommer 2022 gegönnt - ist, wie soll ich sagen: aromatisch hochanämisch. Möchte man milde sein (was mit ein paar Bellinis intus durchaus leicht fällt), könnte man konzedieren: Purismus in Reinform. Der fast schon aufreizend schlichte Gestus der Zubereitung hat zumindest den Effekt, dass man die exzellente Qualität des Fleisches sofort bemerkt, es schmeckt cremig, sahnig, fein. Die Mayonnaise - nun ja, eine optische Notwendigkeit, damit die Hommage an Maestro Carpaccio auch wirklich klappt. Die Pointe schlechthin aber ist die Sättigungsbeilage: ein Schüsselchen in Streifen geschnittenen Eisbergsalats, betupft mit ein paar Spritzern Olivenöl. Well, das illustre Publikum heute besteht wie seit Gründung der Bar 1931 vorwiegend aus US-Amerikanern. You can never be too rich or too thin, Darling!

Nächstes Mal bestelle ich Harrys Pasta.

Das Pärchen am Nebentisch aß sie.

Sie war mit viiiiieeel Käse überbacken.


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