Published May 2024
"Elefantös!"
Tante Traudis Kasnudeln.
Immer, wenn wir Tante Traudi in Klagenfurt besuchen, wartet sie mit Kasnudeln auf uns. Es ist zwar keine direkt ausgemachte Sache, dass sie Kasnudeln machen würde, aber insgeheim bauen wir darauf. Wenn wir sie anrufen und fragen: "Du Traudi, können wir dich am Wochenende besuchen?", fragen wir nie nach den Kasnudeln. Aber wir hoffen, dass Traudi uns nicht enttäuscht. Es ist ein unausgesprochenes Gesetz, dass es Kasnudeln geben muss, wenn wir bei ihr ankommen. Wir fahren in München in aller Frühe los, damit wir am Wörthersee sind, wenn Traudi fürs Mittagessen die Nudeln ins Kochwasser wirft. Tante Traudi kam in Kärnten zur Welt. Sie ist die Halbschwester meiner Mutter, die ältere der beiden. Meine Mutter wurde auch in Österreich geboren, musste aber als Kind mit meiner Großmutter ins Rheinland ziehen. Es war Krieg, meine Großmutter hatte einen Deutschen geheiratet. Die Tante durfte in Österreich bleiben. Traudi kann Kasnudeln machen. Meine Mutter nicht.
Tante Traudi an ihrem
92. Geburtstag, 2024.
"Schenk schon mal das Gösser ein", sagt Traudi zu mir. Das Gösser ist ein Bier. Wir trinken immer zwei Halbe zu dritt. Und wir verdrücken immer fünf von Tante Traudis dicken Kasnudeln, jede von uns ganze fünf Stück, sonst ist die Tante enttäuscht. Bei der fünften fragt sie: "Und, will einer noch was?" Und wir antworten immer: "Traudi, um Gotteswillen, nix geht mehr!" - "Ist recht", sagt sie dann. "Ich frier euch den Rest ein. Für zuhaus'."
Das Gösser gehört zu den Kasnudeln wie der Endiviensalat, den Traudi mit Kürbiskernöl und Knoblauch anmacht. Die Familie meiner Großmutter stammte aus Kärnten und der Steiermark. Aus der Steiermark kommt das Kernöl, aus Kärnten die Nudeln. So kommt eins zum andern, an diesem Mittagstisch der Tante, der österreichische Süden, unsere Sehnsucht danach und das Glück, uns diesen Süden einzuverleiben. "Prost Traudi", sagen wir, "die Nudeln schmecken elefantös." - "Na, servus", sagt die Traudi und kriegt feuchte Augen: "Wenn ihr kommt, kann ich doch nicht keine Kasnudeln machen!"
Traudi im Buschenschank.
(Ohne Gösser, aber mit Prost!)
Meine Cousine, Traudis Tochter, sagt etwas anderes: "Bittschön, werd' ich mir das antun? Kasnudeln selbermachen? Bin i' blöd?"
Kärntner Kasnudeln müssen selbstgemacht sein. Stück für Stück. Das dauert. Deshalb macht sie kaum noch wer selbst. Außer der Generation von Tanten, Müttern, Großmüttern, für die es das Selbstverständlichste der Welt ist, bei der Küchenarbeit Schürze zu tragen. Diese Frauen haben noch ganze Kollektionen von Schürzen im Schrank, weiß, bestickt, gerüscht, mit Schleifen. Wenn Tante Traudi sich zum Essen an den Tisch setzt, nimmt sie ihre Schürze ab. Wenn man sie fragt, wie sie die Kasnudeln macht, guckt sie verdutzt: "Ja, wie? Ganz normal." - "Wie, normal?" - "Na, aus dem Gefühl."
Das Südkärntner Gefühl
(Kirchbach im Gailtal, 2023).
Aus dem Gefühl. Kürzlich rief eine Kerstin aus Kärnten in einem Foodblog mit drei Ausrufezeichen um Hilfe: "Ist echt peinlich, ich kann keine Kasnudeln!!! Kann mir jemand ein Rezept geben???"
Rezepte für Kärntner Kasnudeln gibt es etwa so viele wie es Kärntner Bergtäler gibt. Nicht mitgerechnet die Rezepte für gefüllte Krapfen oder karnische Cjarsons, die auf ihre Art alle auch Kasnudeln sind. In manchen Tälern früher gedieh nur Roggen, also macht man die Nudeln dort heute noch traditionell mit Roggenmehl. Manche Täler waren reich gesegnet, dort tat man Weizenmehl in den Teig. Andere Täler waren richtig arm, dort streckte man die Füllung mit Erdäpfeln. Oder mit Hirse. Es gibt Kärntner Kasnudeln ohne Eier im Teig und solche mit Eiern; es gibt Nudeln mit Knoblauch und solche ohne, mit Lauch und ohne. Mit Semmeln in der Füllung. Ohne Semmeln in der Füllung. Manche Köchin würzt ihre Nudeln mit einem Hauch Chili. Andere schüttelt es bei diesem Gedanken. Es gibt Nudeln, die aussehen wie Tennisbälle: rund, fest, prall. Andere Nudeln schauen aus wie Flundern: eher platt. Es gibt Nudeln mit einem Teigkranz als Rand. Und solche ohne. Alle Kärntner Kasnudeln aber wären keine Kasnudeln ohne diese drei Zutaten: Bröseltopfen, Minze, Keferfill. So heißt in Kärnten der Kerbel.
In der Füllung:
Bröseltopfen, Kerbel, Nudelminze.
Weil in Kärntner Kasnudeln kein Fleisch hineinkommt, waren sie einst eine ideale Fastenspeise für den fleischlosen Freitag der Katholiken. Aber selbst Kärntner Protestanten, von denen es ein paar Versprengte gibt, kennen noch den Spruch: "Die Füllung wird drei Vaterunserlang gerührt." Wenn es dabei bliebe! Im Verhältnis dazu braucht das Kneten des Teigs so lang wie eine schlechte Predigt: ewig und drei Tage.
Die Erna und ich, 2017.
Ich habe das ausprobiert. In der Küche von Erna Patterer in Kirchbach im Gailtal. Erna stammte von einem Bauernhof aus dem Gailtaler Dorf Mitschig. Seit sie verheiratet war, führte sie mit ihrem Mann Hubert eine kleine Pension. Unsere Familie saß fast 60 Jahre lang, viele Wochen im Jahr, bei der Erna in der Küche. Oft kochten wir zusammen. An ihrem alten Holzherd. Und einmal, an Ostern, sagte Erna zu mir: "Ziag dei Schürzn an. Heit moch ma Nudeln."
Die weiße Schürze
(hier am Kühlschrank in Zagreb).
"Tua lei kneten!"
Die Nudeln sollten zu Mittag fertig sein. Um zehn Uhr morgens fingen wir mit dem Kochen an. Gegessen haben wir um zwei. Erst haben wir Kartoffeln aufgesetzt und nebenbei den Teig gemacht. Weizenmehl, Eier, Salz, etwas Olivenöl. "Kneten tuascht du", befahl die Erna und setzte sich vor mich hin. Ich stand vor ihrem Nudelbrett, groß wie ein Tisch, und legte los: drückte, knetete, walkte und rollte den Teig, von innen nach außen, von außen nach innen, ließ die Teigkugel aufs Brett knallen, zog ihr eins über, links, rechts, drückte, walkte, presste und rollte. Erna lachte: "Tua lei kneten." Nach etwa zwanzig Minuten drückte sie ihren Daumen in den Teig: "A bissl noch." Da war der Teig kein klebriger Klumpen mehr, sondern eine weiche, schmiegsame Masse, die im Rhythmus meiner Hände über das Brett tanzte, linksherum, rechtsherum. Der Teig glänzte wie Butter. Kasnudelmacherinnen, soviel steht fest, können sich das Fitnessstudio sparen.
Katharina Prato:
"Süddeutsche Küche",
24. Ausgabe, 1895.
Der fertige Teig ist erst der Anfang. Er wird in Stücke geteilt und zu Rollen geformt. Von den Teigrollen zwickte die Erna walnussgroße Stücke ab und walkte sie mit dem Nudelholz auf Handtellergröße. Andere Hausfrauen rollen den ganzen Teig aus und stechen mit einem Glas Kreise aus. Nicht so die Erna: "Bei uns daheim macht man's so."
"Zeig mal, wie du
krendeln kannst."
Sie bemehlt ihre Handflächen, legt einen Teigfladen in ihre linke Hand und nimmt ein Buttermesser. Damit streicht sie die Füllung aus Kartoffeln, Topfen, Knoblauch, Zwiebeln und Lauch auf den Teig. Sie macht eine Faust, der Teigfladen klappt über der Füllung zusammen, sie drückt die Teigränder fest und zieht sie ein wenig auseinander: "Jetzt zeig amol, wie du krendeln kannst", sagt sie, und drückt mir die halbmondförmige Nudel in die Hand.
Beim Kasnudel-Krendeln.
Das Krendeln ist der eigentliche Grund, warum echte Kärntner Kasnudeln selbstgemacht sein müssen. Krendeln kann man nur mit der Hand. Mit Daumen und Zeigefinger klappt man Stückchen für Stückchen des Teigrands um, so dass ein Muster entsteht, das aussieht wie ein geflochtener Kranz. Nach gut zwei Stunden hatten Erna und ich auf diese Weise etwa 60 Nudeln gekrendelt. Zählen durfte ich die Nudeln erst, als wir fertig waren. "Vorher nicht", hatte Erna erklärt: "Das bringt Unglück, sagt man bei uns."
Die Karnischen Alpen,
wie Erna sie sah
(gleich dahinter liegt die
Carnia, Heimat der Cjarsons).
"Schmalzkostbezirk"
Möchte man es genau nehmen, ist die Kärntner Kasnudel gar keine Nudel, sondern ein Krapfen. Der Krapfen ist verschwistert mit den Knödeln, Nockerln und Gnocchi, den Kücherln und Wickerln. Nudeln und Krapfen sind mit dem Strudel verwandt, und der Pfannkuchen könnte, entwicklungsgeschichtlich betrachtet, als ihr Schwippschwager durchgehen. Es ist kein Zufall, dass dergleichen verkrapfstrudelte Knödelei im Alpenraum ihr Wesen treibt.
Volkskundler kennen die Einteilung kulinarischer Kulturräume in "Schmalzkostbezirke" und "Fleischkostbezirke". Überall dort, wo Berglandwirtschaft betrieben wird, überwog, kulturgeschichtlich betrachtet, die sogenannte "Schmalzkost" mit Teigen aus Eiern und Mehl oder Mehl und Wasser oder Milch, Mehl und Eiern. Die Alpen sind Schmalzkostland.
Butter, Eier, Milch und Mehl:
Schmalzkostland-Essentials.
Eier, Milch und Mehl - davon hatte man selbst in kargen Zeiten immer das ein oder andere zur Hand. Die schlichteste, kulturgeschichtlich früheste Nudelspeise sind
Mehl und Wasser, zum Teig verquirlt, eingetropft in Suppe. Eier und Milch waren die besseren Dreingaben - damit ließ sich der kulinarische Spielraum schon beträchtlich erweitern. Auf diese drei
Zutaten gehen alle Gerichte zurück, die wir mit der Gemüthaftigkeit des Südens assoziieren: Spätzle, Knödel, Strudel, Nudeln. Die italienischen tortellini in brodo, gefüllte Nudeln in
Brühe, sind eine Variante dieser althergebrachten, traditionellen Bauernkost.
3 Eier nimmt Traudi
für den Teig ihrer Kasnudeln:
1 ganzes, 2 Dotter.
Auch im kargen bäuerlichen Alltag wurden die Eintropfnudeln häufig in Schmalz ausgebacken. Ausgelassenes Fett vom Schwein war nach der jährlichen Hausschlachtung reichlich vorhanden. Es wurde unter anderem zum Konservieren von Fleisch gebraucht, man denke ans Grammel- oder Griebenschmalz, an Rillettes ... Elektrische Kühlschränke kamen erst in den 1930er Jahren in Europa in Mode - in den Städten. Nicht auf den Bergbauernhöfen im Alpenraum. Dort wurde auch die Butter während des Almsommers schnell ranzig. Hingegen zu Butterschmalz verköchelt, hielt sie der Gefahr der Verderbnis länger stand.
Frische Bauernbutter
auf dem Benediktinermarkt
in Klagenfurt.
Schmalzgebackenes stand und steht
für das Besondere, Festliche.
Schweine- und Butterschmalz nutzten die Frauen zum Ausbacken von Teigen aller Art. In alpinen Regionen bedeutete Schmalz auf dem Teller auch Schmalz in den Armen - berglandwirtschaftlicher Alltag ist nichts für Memmen. In Kärnten kennt man die Farfelen, fingernagelgroße Nudelknöpfle, die, in Schmalz ausgebacken, an die deutschen Backerbsen erinnern - ebenfalls eine Suppeneinlage. Die italienische Pasta farfalle geht darauf zurück, ursprünglich ein Nudelteig, den man in eine köchelnde Suppe hineinrieb. Dickte man den flüssigen Farfelteig mit etwas mehr Mehl an, ließen sich davon löffelgroße Klümpchen abstechen. Die heißen in Österreich "Nockerln".
Schmalz in den Armen.
(Christian Wilhelm Allers, 1888,
Detail aus meinem Buch
"Frauen mit Geschmack")
In Fett ausgebackene Nockerln nannte man im Mittelalter "Krapfen" oder "Kücherl". Und jetzt kommen die Pfannkuchen ins Spiel: In Berlin sagt man zu Krapfen "Pfannkuchen". Da ist was dran: Pfannkuchen sind tatsächlich die Vorfahren unserer Krapfen!
Pfannkuchen waren im Mittelalter ausgebackene Eierteige mit einer Füllung. Und Kärntner Nudeln sind zusammengeklappte Eierteige mit Füllung. Im Kärntner Lesachtal, das an Osttirol grenzt, sagt man zu den gefüllten Kasnudeln "Lesachtaler Krapfen". In Slowenien, Kärntens Nachbarland, heißen die Kasnudeln sirnati krapi - Käsekrapfen. Und die kärntnerischen Schlickkrapferln, Nudeln mit einer Beuschelfüllung, die man in Brühe siedet, heißen zlinkrofi. Und wie steht es um die Verwandtschaft der Nudeln mit dem Strudel? Wenn man in einen Eier-Milch-Mehl-Teig eine Füllung hineinrollt, nennt man das Strudel. Der gefüllte Palatschinken wäre demnach eine Art Ur-Strudel.
Strudel aus Slowenien auf dem
Klagenfurter Benediktinermarkt.
Paolo Santonino
An dieser Stelle muss nun vom Bischof von Caorle die Rede sein. Er ist bis heute eine Berühmtheit im Friaul, in der Carnia und in Kärnten. Er bereiste von Aquileia aus das heutige Land Kärnten vor gut 500 Jahren. Im Schlepptau des Bischofs reiste auch sein Sekretär Paolo Santonino. Santonino wurde zur Legende, weil er über die Reisen ein kulinarisches Tagebuch führte. Es zählt zu den bedeutendsten Zeugnissen der frühneuzeitlichen Küchentradition des Friaul, Südkärntens und Sloweniens.
Einkehr im Dreiländereck
Kärnten, Slowenien, Italien,
in der Gostilna Surc zwischen
Tarvisio und Kranjska Gora.
"Kräpflein füllen"
Man wird kaum einen Kärntner finden, der den Schlemmeratlas des Paolo Santonino nicht kennte. Und das, obwohl die Reise des Bischofs und seines Sekretärs in den Jahren 1485 bis 1487 stattfand. Santonino hatte den Appetit zweier Ackergäule, und als er sich während seines Kärntenaufenthalts einmal kreuz und quer durch das Gailtal futterte, ließ er dabei kein Eichhörnchen, keinen Biber und keinen gesottenen Bilch aus. Von Interesse sind aber weniger die "Bilch" genannten Siebenschläfer, sondern die Krapfen- und Pfannkuchengerichte, von denen Santonino erzählt: "Schäle Äpfel, dünste sie in Schmalz, menge Eier, Ingwer und Kräuter dazu. Mache ein Teigblatt und falte es über den Äpfeln. Lasse sie in Schmalz backen. Mit derselben Fülle kannst du auch Kräpflein füllen."
Das Untere Gailtal
im Dreiländereck mit Stationen
der Reise des Bischofs von Caorle.
Teile des Friaul und Südkärntens, wozu auch das Gailtal gehört, zählen zur Carnia, der karnischen Region, benannt nach den Karnischen Alpen. In der italienischen Carnia, der Region von Tolmezzo bis Udine, isst man heute noch cjarsons - Nudeln mit einer Füllung aus getrockneten Früchten (z. B. Rosinen), frischen Kräutern, Kartoffeln, Weißbrot, Ricotta und Zimt, übergossen mit Butterschmalz. Die Menschen der Carnia pflegten schon im 4. Jahrhundert vor Christus mit den Venetern aus Oberitalien einen Kultur- und Warenaustausch. Als Venedig mit dem Orienthandel zur Weltmacht aufstieg, profitierte auch die Carnia davon. Deren Küchentradition ist reich an orientalischen Reminiszenzen. Zimt ist heute noch das dominierende Gewürz der Kärntner Küche. Man darf vermuten, dass auch die Minze, die eine gewöhnliche Kasnudel erst zur echten "Kärntner Kasnudel" macht, ihre kulturgeschichtlichen Wurzeln in der orientalisch inspirierten Geschmackstradition des Mittelalters hat. Oder liegen die Ursprünge womöglich noch weiter zurück?
Cannella polvere -
Zimtpulver und Zimtstangen
in einem Geschäft in Venedig, 2023.
Für Kärntner Kasnudeln nimmt man Braune Minze, mentha gentilis. Ihr Stengel hat eine rötlich bräunliche Farbe. Es handelt sich um eine Kulturminze; sie wächst nicht wild. In Kärnten nennt man sie "Nudelminze" und zieht sie in Hausgärten selbst. Sie schmeckt nicht so überwältigend menthollastig wie die englische spearmint oder die Pfefferminze. Ihr Aroma ist zarter, unaufdringlicher; sie duftet dezent.
"Globulos sic facito"
(Krapfen mache so)
Faustnudeln, Füllungen aus Minze, Frischkäse, Rosinen, Getreide, dazu der Bischof von Caorle und sein Sekretär als kulinarische Influencer des 15. Jahrhunderts, Caorle und Aquileia als kulturelle Zentren Oberitaliens, die Via Julia als römische Militär- und Handelsstraße - weshalb in Kärnten und der Carnia das Süß-Pikante so beliebt ist und in den Cjarsons sich nachgerade idealtypisch vereint, hat, meine ich, einiges mit dem nachhallenden Echo der antiken römischen Küche zu tun: "Globulos sic facito: Mische Käse mit Graupen, mache eine Faust hohe Kugeln daraus, wickele sie in Fladenteig, backe sie in Öl heraus" - so lesen sich Rezepte für Krapfen und Nudeln in der landwirtschaftlichen Abhandlung de agri cultura von Marcus Porcius Cato (234-149 v. Chr.). Beliebt dazu im alten Rom: Saucen mit Minze, Pinienkernen, Rosinen, Honig. Der Kärntner Reindling, ein Guglhupf mit einer Füllung aus Zimt, Zucker (vormals Honig) und Rosinen, wird heute noch zur Osterjause zusammen mit Schinken serviert.
Frische Minze auf dem
Mercato Esquilino
in Rom.
Für Kasnudeln darf man
mit getrockneter Minze
nicht sparen.
"Lei guat"
Tante Traudis Kasnudeln sind so groß wie eine kleine Faust. Sie rollt die Füllung zu Knödeln, klappt den Teig darüber und sticht das ganze mit dem Teigradel aus. Die Fachsprache nennt das "geradelte Faustnudeln". Trotzdem sind Kärntner Kasnudeln die Sanftheit in Person. Sie haben keine Ecken und Kanten. Sie zergehen im Mund, behäbig und ein wenig träge, wie die Kärntner Sprache sich sanftmütig gibt, in ihrem dunkel getönten, weichen Singen und Sagen. Der Kärntner Dialekt, sprachgeschichtlich eine Variante des Bairischen, hat die Färbungen des Südens angenommen, er gibt sich umgänglicher, weicher als das Bairische. Das Kärntner Liedgut erklingt oft in Moll, einem sehnsüchtigen, sentimentalischen Alpenmoll. Das krachlederne Hauruck der östlich benachbarten tirolerischen Gutturallaute liegt den Kärntnern nicht so im Gemüt. Tiroler Kaspressknödel, die man in der Pfanne abschmalzt und in die Suppe gibt, sind eine resche, zupackende Angelegenheit; in ihrem Kern steckt ein robuster Bergkäse von markantem, handfestem Geschmack. Über Tiroler Knödel dürfte man auch in feinerer Runde sagen, sie schmeckten "saugut".
Hingegen kommt, wer mit Kärnten und den Kärntnern zu tun hat, um das Wort lei nicht herum. Wörtlich übersetzt heißt es "nur", aber damit ist nicht viel gesagt. Es meint eher, was die Bayern mit dem Füllwort "halt" auszudrücken pflegen. Es nimmt dem, was gesagt wird, seine Eigentlichkeit. "Lei laufn lossn" ist ein Lieblingsausdruck der Kärntner. Ihr Lebensgefühl gibt sich in die Dinge drein. Unbill wird ausgesessen. Mit "lei" lässt sich wunderbar um den heißen Brei herumreden. Die Kärntner Kasnudeln schmecken Kärntnerinnen wie Traudi: "lei guat".
Groß wie eine Faust:
Die Füllung der Kasnudeln,
wie Traudi sie macht.
Almschotten
Der Einkehrgasthof Grünwald der Schwestern Ingeborg und Gudrun Daberer liegt in St. Daniel im Gailtal. Oberhalt des Dorfes, hinter Kiefern und Buchen versteckt, steht die Burgruine Goldenstein, wo Paolo Santonino dereinst Pfirsiche und Brot speiste, "schneeweiß und leicht". Gegenüber vom Gasthof haben sich die Karnischen Alpen zu einer barocken Theaterkulisse formiert; Bergflanke an Bergflanke in gleichmäßigen Abständen hintereinander gestaffelt in schönster Dramaturgie. Dort droben, auf diesen Bergrücken, fängt Italien an.
Der Plöckenpass,
Grenze des Gailtals zur
italienischen Carnia.
(Aquarell von Aegid Sonnleitner, 1876-1962)
Der Bröseltopfen für die Kärntner Kasnudeln hat mit dem cremig gerührten, wasserhaltigen deutschen Quark nicht viel gemein. Sein Bruder im Geiste ist vielmehr der italienische Ricotta. Nur im Gailtal, auf den Almen der Karnischen und Gailtaler Alpen, wird der feinbröselige "Schotten" gemacht: der Kärntner Ricotta. Mit ihm füllt Ingeborg Daberer ihre Kärntner Almschotten-Nudeln.
Caseum empfahl Cato der Ältere
für seine Rezepte für Käsekrapfen ...
... Bröseltopfen nimmt man
heute dazu in Kärnten.
Bröseltopfen heißt so, weil er bröselt. Er ist ein Frischkäse aus Kuhmilch, die unter Beigabe von Molke, Butter- oder Sauermilch und Lab in 14 bis 18 Stunden zur Gallerte stockt. Die wird anschließend mit Messern oder einer Käseharfe zu winzigen Brocken verschnitten, zum Abtropfen in ein Sieb geschöpft und schließlich bis zu drei Stunden gepresst.
Almschotten und Ricotta weren in ähnlicher Weise hergestellt, nur mit dem Unterschied, dass die Grundsubstanz nicht Milch, sondern die vom Buttern und Käsen übriggebliebene Molke ist. Man bringt die Molke zum Kochen, versetzt sie mit Lab und einem Stamperl Zitronensäure, woraufhin das Eiweiß im Nu ausflockt. Die Brösel werden, wenn sie noch kochend heiß sind, abgeschöpft und zu kleinen Laiben gepresst. Der frisch aus dem Käsekessel kommende, milchsüß dampfende, flaumige "Schöpfschotten" ist eine Delikatesse, und man kann sich glücklich schätzen, wenn man bei einem Senner oder einer Sennerin einmal davon kosten darf - diese Köstlichkeit behalten die Almbauern nämlich gerne für sich. Den restlichen Schotten räuchern sie. Direkt auf der Alm, über Buchenholz. Er wird als Brettljause serviert.
Cjarsons, gefüllt und
bestreut mit
geräuchertem Ricotta, in der
Osteria Antica Maddalena
in Udine.
Zwanzig Almen in den Karnischen Alpen gehören zu Österreich, sieben zu Italien. Die Landesgrenze tut hier schon lang nichts mehr zur Sache. Wenn Ingeborg Daberer einmal im Jahr zu ihrem "Nudl Kudl Mudl" lädt, sind die Tische ihres Wirtshauses im Gailtaler Dorf St. Daniel nicht nur von den Gailtalern, sondern auch von den Gästen aus Italien voll besetzt. Das "Nudl Kudl Mudl" ist ein Höhepunkt im St. Danieler Wirtshausjahr. Der "Gasthof Grünwald" der Schwestern Ingeborg und Gudrun Daberer ist so etwas wie das kulturelle Herz der Gemeinde. Seit 1786 im Familienbesitz, steht er da wie erträumt, umfriedet von Kirche, Bauernkegelbahn und einem alten Walnussbaum. Dieses Idyll an Wirtshaus-Dreifaltigkeit lässt Rückschlüsse auf die Tradition, Verwurzeltheit und das Lebensgefühl der Menschen in der Kärntner Carnia zu. Die Dabererschwestern halten diese Überlieferung hoch. Sie pflegen die regionale Kultur und sind für ihr Engagement mit der Auszeichnung "Kärntner Kulturwirt" bedacht worden.
Kärntner Brettljause,
mit Liptauer aus Bröseltopfen
(etwas versteckt in der Mitte).
Das Kasnudel-Krendeln hat Ingeborg gelernt, als sie in die Schule kam - "von der Mutter". Früher sagte man in Kärnten "a Dirndle, das nit krendeln konn, kriagt kan
Mann." Wohl eine halbe Million Nudeln hat Ingeborg in den letzten Jahren gekrendelt: "Jedes Jahr 30.000 Stück", schätzt sie. Die Zeiten, als ihre ersten Kasnudel-Versuche "ausg'schaut haben wie
selbstgehäkelte Topflappen, schief und krumm", sind passé. Ingeborg steht jeden Morgen in der Wirtshausküche, setzt die Brühe für den Mittagstisch auf, und während die Rindssuppe mit ihren
Knochen und Fleischstücken und Suppenkräutern leise vor sich hindampft, macht Ingeborg die Kasnudeln, Erdäpfelnudeln, Kletzennudeln und Fleischnudeln für die Tageskarte. Beim "Nudl Kudl Mudl" im
Gasthof Grünwald steht sie noch länger als diese paar morgendlichen Stunden in der Küche, fängt schon Wochen vorher mit dem Nudelmachen an, zerbricht sich den Kopf über neue Füllungen mit Mohn
und Äpfeln, Blaubeeren und Walnüssen, Basilikum und Tomaten, Hirse und Brennnesseln, Kürbis, Eierschwammerln oder Wildkräutern. Mit Dingen, die hier im Gailtal vor der Haustür wachsen. Die
bäuerliche Küche, seit je eine Frauenküche, hat schon immer den Zauber beherrscht, aus wenig viel zu machen. Eier, Mehl, Topfen - aus drei Zutaten entsteht eine kulinarische Welt. Früher nannte
man es Armeleuteküche.
www.gruenwald.dellach.at
www.anticamaddalena.it
***
in memoriam
Erna Patterer
(31. Juli 1934 - 9. Dezember 2018)
Die Erna, der Hubert, die KLEINE ZEITUNG
und mein Mann in Ernas Küche
beim Bohnenpalen.
(Kirchbach im Gailtal, 2017).
***