Was vom Teller übrig bleibt...
"... meinen Kundenkreis,
der aus Herrschaftsköchen und
Köchinnen bestand, konnte
ich gut beraten."
(Theodor Hierneis, Hofkoch Ludwigs II.)
Zeitmaschinen gibt es bedauerlicherweise nicht. Doch auch Gebäude können wie Zeitmaschinen sein. Oder einzelne Geschäfte. In
Starnberg gab es bis vor einem Jahr einen Laden, der wie eine Tür wirkte, zu einer anderen Welt. Die Welt der Hofküchen. Und Hofköche.
Theodor Hierneis war einer von ihnen. Der Mundkoch König Ludwigs II., des Märchenkönigs. Kaum jemand weiß heute noch, dass er nach dem Tod des Königs und einem kurzen Zwischenspiel in Berlin beim deutschen Kaiser, nach München zurückkehrte und Delikatessenhändler wurde - und Hoflieferant.
Noch weniger bekannt ist, dass seine Tochter das Geschäft an die Familie Schindler übergab. Und diese in drei Generationen die Tradition des königlich bayerischen Hofkochs mit feinem Understatement pflegte. So wurde Schindler Delikatessen zu einer Starnberger Institution. Brigitte Irmer, die letzte Inhaberin aus der Schindler-Familie, drückte es so aus: "Meine Aufgabe war es, die Früchte meiner Vorfahren zu erhalten."
Fotos: Privatbesitz Brigitte Irmer / Katja Mutschelknaus
Vom Hofkoch zum Hoflieferant:
Das "Ladengeschäft für Feine Kost"
des Hofkochs Theodor Hierneis.
FoodTorian: Frau Irmer, kaum jemand, der heute in Starnberg am Haus Maximilianstraße 1 vorübergeht, weiß noch, welch große Tradition mit dieser Adresse verbunden ist.
Brigitte Irmer: Hier in diesem Haus hat kein Geringerer als Theodor Hierneis, der Hofkoch König Ludwigs II., sein
Delikatessengeschäft geführt. Er wählte die Maximilianstraße als erste Adresse für seine Dependance am Starnberger See. Nach dem Ausscheiden aus dem Hofdienst hatte er ja zunächst im Jahr 1900 in
München in der Neuhauserstraße 7, gleich beim Marienplatz, einen Feinkostladen gegründet. Und weil das Geschäft gut lief und er beste Connections zu den herrschaftlichen Villen hier am See hatte,
gründete er diese Filiale. Er wollte als Traiteur für fertige Diners (heute würde man "Caterer" sagen), es zu den herrschaftlichen Villen hier in der Gegend nicht so weit
haben.
Theodor Hierneis (1868-1953)
mit seiner Frau Eleonore.
Die 2. Generation von "Feinkost Schindler":
Rudolf und Ilse Schindler, 1950er Jahre.
FT: Die Starnberger Filiale eröffnete er 1901.
BI: Nur ein Jahr nach dem Start seines Münchner "Ladengeschäfts für Feine Kost" - er hatte sich für dieses Delikatessengeschäft übrigens den Dallmayr als Vorbild genommen.
FT: Und wie kam das traditionsreiche Geschäft des königlich-bayerischen Hofkochs schlussendlich in die Familie Schindler?
BI: Da muss ich ein bisserl ausholen - bis ins Jahr 1934. Damals betrieben meine Großeltern Guido und Frieda Schindler ein Hotel an der Donau. Sie wollten sich verändern, von dort wegziehen, und da fügte es sich, dass mein Großvater damals Kontakt zu einem Kommerzienrat Zetto hatte. Herr Zetto erzählte ihm, dass Frau Pickel-Hierneis, die Tochter von Theodor Hierneis, das Geschäft gerne verkaufen wollte. Frau Pickel hatte es von ihrem Vater übernommen, aber die Aussicht, ihr Leben mit dem Einzelhandel zu verbringen, war für sie auf Dauer keine Option gewesen.
Frühform modernen Caterings:
Theodor Hierneis belieferte die Starnberger
Villenkundschaft mit fertigen Diners.
FT: Vom Hotel zum Delikatessenhandel ist der Weg auch nicht so weit.
BI: Zumal meine Mutter im Hotel meiner Großeltern eine Lehre als Köchin absolviert hatte. Meine Mutter ging also nach Starnberg zur Frau Pickel, schaute sich das damals etwas heruntergewirtschaftete Geschäft an und wickelte dann in Absprache mit meinen Großeltern den Verkauf und die Übernahme ab. Von da an führte dann meine Oma Frieda mit ihren drei Töchtern - eine war meine Mutter - das Geschäft. Es war damals noch kleiner als heute, es gab noch kaum abgepackte Waren. Alles war lose und musste beim Verkauf aus Säcken und Körben einzeln abgewogen werden.
FT: Mitte der Dreißigerjahre - was galt damals als Delikatesse?
BI: Salami! Und die ersten Konservendosen überhaupt: Fischkonserven. Und Zucker natürlich. Und Weißmehl und Brot. All das lief unter, wie man damals sagte: feiner Kost. Und Leberwurst!
FT: Diese Wurstspezialität spielt in ihrer Lebensgeschichte eine besondere Rolle.
BI: Mein Vater liebte Leberwurst. Er arbeitete zu jener Zeit als junger Bursch in Starnberg und war unter anderem auch Vorturner im Turnverein Undosa. Und weil er so ein Leberwurstfan war, kam er immer in unseren Laden, um bei meiner Mutter Leberwurst zu kaufen. So fing alles an ...
Ilse Schindler im Delikatessen-Himmel
der Wirtschaftswunderjahre.
FT: Dann kam der Krieg. Und anschließend die Wirtschaftswunderjahre.
BI: Mein Vater hieß Rudolf. Meine Oma Frieda hatte ihm und meiner Mutter versprochen, ihnen den Laden zu übergeben, wenn Rudolf gesund aus dem Krieg heimkommt. Und das tat er, Gottseidank. Trotzdem gab es dann erst einmal ein ziemliches Hin und Her, aber schlussendlich übergab meine Großmutter dann doch das Geschäft an Ilse und Rudolf.
FT: Zu dieser Zeit bestand das Geschäft noch aus einem Café und einem Laden.
BI: Beides betrieben meine Eltern mit viel Elan und jeder Menge Ideen für Neues. Bald kamen dann auch wir Töchter auf die Welt, meine Schwester im Jahr 1948, und ich im Jahr 1951. Ich bin quasi hier im Laden aufgewachsen. Von klein auf fand ich hier alles einfach toll. Mein Spitzname war "Gittlein". Das kleine Gittlein war ein fröhliches Kind - und verbrachte jede freie Minute im Geschäft. Und als ich schon ein bisschen größer war, durfte ich dann sogar die Geschenkkörbe zusammenstellen und verpacken. Dass ich schließlich nach der Realschule hier meine Lehre zum Einzelhandelskaufmann machen würde, war fast selbstverständlich. Und anschließend setzte ich noch den Handelsfachwirt obendrauf.
Brigitte Irmer, geb. Schindler, als Kind.
Das einstige "Gittlein" wurde zur guten Seele
der Traditionsadresse am See.
FT: Es scheint, als sei es für Sie früh klar gewesen, dass Sie die Tradition weiterführen.
BI: Mein Vater erlitt 1976 einen Schlaganfall. Da war ich frisch verheiratet. Meine Mutter hätte den Laden ohne meinen Vater nicht alleine weiterführen können. Und obwohl mein Mann aus einer Beamtenfamilie stammt, also zunächst keinen Bezug zum Delikatessenhandel hatte, war er in diesem Moment die treibende Kraft. Er sagte damals zu mir: So einen Familienbetrieb gibt man nicht auf. Diese Tradition muss weitergehen!
FT: Und dann kauften sie beide Ihren Eltern das Geschäft ab.
BI: Genau ab 1. Januar 1978. In monatlichen Raten. Mein Mann hatte viele Ideen für das Geschäft. Er überzeugte mich davon, manches zu verändern und Innovationen vorzunehmen. So haben wir 1980 zum Beispiel erst einmal groß umgebaut - und das Geschäft um ein Bistro erweitert.
Feine Kost, wie man sie in den 1950ern liebte:
Exotische Früchte, Würste und Gänseleber in Dosen.
FT: Was waren denn in den feierlustigen Achtzigern die kulinarischen Renner?
BI: Fisch aus dem Starnberger See, natürlich. Und Austern. Und Champagner. Aber auch ganz normale Gerichte der bürgerlichen Küche. Ich habe jeden Tag eine Suppe gekocht, ein Ragout, verschiedene Salate. Wir haben alles selbst gemacht und frisch gekocht.
FT: Keine Gerichte aus der königlich bayerischen Hofküche?
BI: Ehrlich gesagt, haben wir mit dieser Tradition kein großes Marketing betrieben. Die Stammgäste kannten natürlich die Historie. Aber ein großes Tamtam wurde darum nicht gemacht. Außer im Jahr 1989. Da hatte ich einmal die Idee, ein König-Ludwig-Menü zu kochen.
FT: Es gab ja auch diesen Film über Theodor Hierneis ...
BI: ... ja, vom Bayerischen Fernsehen. Mit Walter Sedlmayr in der Hauptrolle. Das war damals für den Sedlmayr ein Durchbruch. Und wir wurden ab und zu auch auf den Film angesprochen. Ein bisschen hatte ich das also schon im Hinterkopf, als mir die Idee zu dem König-Ludwig-Menü kam.
Handgeschriebene Menükarte von
Feinkost Schindler für ein "König-Ludwig- Menü".
FT: Gab es das König-Ludwig-Menü in den Jahren darauf öfter?
BI: Leider muss ich sagen, dass wir das ein bisschen versäumt haben, mehr aus der Idee zu machen. Heute denke ich, wir hätten das vielleicht mehr ausbauen können. Das Geschäft und das Bistro liefen aber so gut, wir hatten über die Jahre und Jahrzehnte eine so treue, große Stammkundschaft, dass wir gar nicht dazu kamen, weiter über die Sache nachzudenken.
FT: Haben Ihre Eltern etwas darauf gegeben, dass hier einmal der Hofkoch König Ludwigs der Besitzer war?
BI: Gar nicht! Wissen Sie, nach dem Krieg war anderes wichtig. Man war nicht Monarchie-versessen. Und hier in Starnberg ist die Aristokratie, sind die Familie Wittelsbach und andere Häuser so dermaßen Teil der Geschichte, so selbstverständlich wenn Sie so wollen, dass kein großes Aufhebens darum gemacht wird. Es ist so. Und wird nicht groß betont.
Das Haus Maximilianstraße 1 um 1900.
Jugendstil am Starnberger See.
FT: Die Familiengeschichte hat aber schon einen besonderen Stellenwert für Sie?
BI: Ich bin hier, in der Maximilianstraße 1, in diesem wunderschönen Haus groß geworden. Im Jahr 2022 war meine Familie seit 88 Jahren hier Mieter. Wir haben die Räumlichkeiten nie gekauft, sondern von den Besitzern, der Familie Ecker, gepachtet. Und obendrüber, in der Wohnung, war unser Zuhause. Alles, was wir hier geplant und umgebaut und neu kreiert haben, wurde immer zunächst mit Handschlag geklärt und besiegelt. Da hat mein sein Wort gegeben und dann war das fix. Das ist eine Verbundenheit mit der Eigentümer-Familie, die mir viel bedeutet.
FT: Das Haus steht unter Denkmalschutz.
BI: Zu Recht - mit dieser wunderschönen Fassade!
"Schindler Delikatessen" bewahrte das
Flair einer glanzvollen Epoche.
FT: Aber nun steht wieder ein Wechsel an.
BI: Nach dem Tod meines Mannes habe ich das Geschäft mit meinen treuen Mitarbeitern lange alleine weiter geführt. Aber jetzt, am Ostersamstag 2022, wird hier mein letzter Arbeitstag sein. Ich habe lange mit mir gerungen und diese Entscheidung schweren Herzens hin und her überlegt. Aber ich bin nun in einem Alter, wo mir die Arbeit in Küche, Laden und Bistro allmählich ein wenig schwerer fällt. Und so muss man sich fragen: Wie lange kann das noch weitergehen?
FT: Leider wird es auch nicht mehr unter dem Namen "Schindler Delikatessen" weitergehen. Ich könnte mir vorstellen, dass da vielen Starnbergern und Stammkunden das Herz blutet ...
BI: Mir blutet schon auch das Herz ...
FT: "Schindler Delikatessen" war über Generationen hinweg eine Institution. Ein Familienbetrieb. Eine Traditionsadresse.
BI: Als König Ludwig II. am 13. Juni 1886 starb, ging für Theodor Hierneis eine besondere Lebensphase zu Ende. Und auch in unserer Familie fühlt sich das jetzt ein bisschen so an: Wenn eine Person wegfällt, dann lässt sich das einfach nicht mehr ersetzen.
Zeichnung des Hauses Maximilianstraße 1
aus dem Privatbesitz von Brigitte Irmer.
"Es ist bestimmt
in Gottes Rat, dass
man vom Liebsten,
das man hat,
muss scheiden!"
(Theodor Hierneis, 1953)
Brigitte Irmer (li.) und Katja Mutschelknaus
anlässlich der Buchpräsentation von
"Der Starnberger See", 2022.
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